14
April
2020

Der Fluss

Eine alte Sufi Geschichte neu erzählt von Agnes Hidveghy

Der Fluss

Es war einmal ein Fluss. Er schlängelte gemächlich durch die Ebene, bewässerte fruchtbare Böden, trug Schiffe und war die Lebensader der Landschaft.

Er hatte einen langen Weg hinter sich. Er trug die Erinnerung in sich, als Quelle in hohen Bergen geboren und als kleines munteres Bächlein freudig von Stein zu Stein heruntergesprungen zu sein – in die große Welt hinaus. Wie er wuchs, haben sich andere Wasserläufe an ihn angeschlossen, und er wusste, sie werden gemeinsam die Welt erobern.

Es wurde manchmal ernst: er musste den Weg durch Felsen suchen, geduldig seinen Weg bahnen. Oft durch neue Wege fließen, nachdem der gewohnte Weg durch Schutt – die er selbst aufgebaut hatte – versperrt wurde. Ja, das war anstrengend! Manchmal musste er sich auch unterirdisch hindurchzwängen oder hatte die Freiheit verloren, indem er zu einem Kanal eingeengt wurde. Einmal wurde er sogar durch eine Staumauer daran gehindert, weiter zu fließen. Es war zum Verzweifeln! Doch wurde dieses Hindernis – allerdings nicht aus eigener Kraft! - wie durch Geisterhand aufgehoben. Wenigstens von Zeit zu Zeit. Es wurde ihm versichert, das geschieht, damit er «genutzt werden kann». Das hat dem Fluss das Gefühl gegeben, dass er wichtig ist. Und dieses Gefühl hat so gutgetan!

Der Fluss hat gelernt, den eigenen Weg selbst zu erschaffen, mit Fleiß und Ausdauer. Hat nie aufgegeben, was die Herausforderung auch war! Er war seiner Kraft bewusst und er wusste um seinen Wert - er war mit seinem Leben im Großen und Ganzen zufrieden. Er war überzeugt, dass er die Schwierigkeiten hinter sich hatte und dass er sein Ziel, das Meer, ohne größere Schwierigkeiten erreichen wird.

So selbstsicher erreichte der Fluss die Stelle, wo die Wüste anfing. Er hat Anlauf genommen, fest entschlossen, weiter mit gewohnten Mitteln seinen Lauf nicht aufhalten zu lassen. Mit seinem starken Willen – gewohnt an Anstrengungen! – ein Flussbett wollte er erschaffen. Wie von Anfang an.

Aber seine Anstrengungen brachten hier nichts. Die Sandwüste wollte ihn nicht durchlassen. Sie schluckte seine Energie, es entstand keine Verbindung zwischen Wasser und Erde, wie gewohnt – er versandete. Die gewohnten Anstrengungen haben hier nichts genutzt, Geduld hatte nichts gebracht.

Dann hörte der Fluss eine Stimme. Sie kam von Oben, aus dem blauen Himmel über sich: „So kommst du nicht über die Wüste. Vertraue dich dem Wind, der wird dich hinübertragen.“ „Ich brauche ein Flussbett!“, jammerte der Fluss – der eigentlich nicht mehr floss! „Mit der Erde verbunden kann ich nur überleben! Wie könnte ein Fluss über die Luft weiter fließen? Das ist Unsinn!“ So stöhnte der Fluss kaum hörbar und kehrte wieder zu seiner bewährten Art der Anstrengung zurück.

Nach einer Weile – er war schon erschöpft und mutlos – hörte der Fluss wieder die Stimme: „Vertraue mir! Ich kenne die Wüste. Sie lässt sich durch gewohnte Art der Anstrengung nicht überqueren! Dein Eigenwille kann noch so mächtig sein – hier nützt er dir nichts. Wenn du es so weitermachst, wird dich der Sand verschlucken, du versinkst in Depression, was für einen Fluss bedeutet, dass aus ihm ein stinkender Sumpf wird. Die Zeit der Anstrengungen ist vorbei. Entspanne dich! Vertrauen allein was jetzt notwendig ist. Lass dich durch den Wind hinübertragen!“

Der Fluss hatte nichts mehr zu verlieren, aber er war noch immer voll mit „aber“. „Was geschieht auf der anderen Seite der Wüste?“ wollte er wissen.

„Dort wird dich der Wind als Regen wieder zu Erde sanft herunterlassen. Dann kannst du für deinen Weg zum Meer weiter fließen.“

„Das tönt gut! Aber werde ich wieder der gleiche Fluss sein?“ platzte er mit der Frage aus.

„Bist du denn auf deinem Weg der gleiche geblieben? Du hast dich doch immer wieder verändert! Erinnerst du dich, wie du angefangen hast und wie du mit jeder neuen Herausforderung dich gewandelt hast? Bist du etwa der gleiche, der als eine Quelle aus der Erde hervorgebrochen ist? Mit jeder neuen Phase bist du kompletter geworden. Alles, was du warst und sein wirst ist das, was du bist, als ganzer Fluss.“

Der Fluss war des Kampfes müde. Er hatte nichts mehr dagegen einzuwenden, dass die warmen Sonnenstrahlen ihn, als Fluss aufgelöst haben und in die Höhe zogen. Da wurde er vom Wind erfasst – und er lernte zu fliegen. Es brauchte schon einige Zeit, bis er zu seiner neuen Identität erwachte: Es war Freiheit, Leichtigkeit und Vertrauen, was er wahrgenommen hatte. Unabhängigkeit des Seins atmete und tanzte er mit dem Wind.

Sonst ist von dieser Wegstrecke nichts zu berichten. Es bleiben keine Spuren, welche man lesen oder beschreiben kann.

…Und der Wind hatte ihn über die Wüste getragen. Ihn als segenbringender Regen fallen gelassen. So konnte er noch großes Land fruchtbar machen und Pflanzen, Tiere und Menschen mit Wasser versorgen, bevor er mit dem Ozean eins geworden ist.

„Und weil er voller Be-Denken gewesen war, konnte der Strom nun in seinem Gemüte die Erfahrungen in allen Einzelheiten viel deutlicher festhalten und erinnern und davon berichten. Er erkannte: "Ja, jetzt bin ich wirklich ich selbst." Der Strom lernte. Aber die Sandwüste flüsterte: "Wir wissen, weil wir sehen, wie es sich Tag für Tag ereignet; denn wir, die Sandwüste, sind immer dabei, das ganze Flussufer entlang bis hin zum Gebirge." Und deshalb sagt man, dass der Weg, den der Strom des Lebens auf seiner Reise einschlagen muss, in den Sand geschrieben ist.“

Author; Agnes Hidveghy Kategorie: ARSSACRA

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