26
August
2000

Die Wurzeln des Tuns

Friedrich Weinreb

Nach der ersten Begegnung aber, im Sommer 1930, fing ich an, seine Bücher zu lesen (Maurice Maeterlinck). Zu verschlingen, müsste ich sagen, denn ein ganz neuer Bereich öffnete sich mir. Danach hatte ich immer gesucht. Es gab ihn. Maeterlinck beschrieb ihn meisterhaft. Nur ein Dichter darf diesen Bereich beschreiben. Bei jedem anderen wird er zum Unsinn und zum Wahnsinn. Wird er trocken, unglaubwürdig, langweilig.

Der Dichter hatte dieses Andere. Bei ihm ist der Stein von der Öffnung des Brunnens hinweggerollt, und der Strom des Wassers kann fliessen. Es wurde mir klar, dass Wissen, Erkenntnis, Einsicht, nicht allein vernunftmässig sind, sondern dass die Vernunft zusammenfällt mit einer ganz anderen Wirklichkeit. Im Menschen lebt diese andere Wirklichkeit ebenfalls. Es ist seine nicht wägbare Seite, seine nicht erfassbare. Aber nur mit dieser anderen Seite zusammen lässt sich der Mensch als solcher erkennen. Das ist das für den Menschen Bestimmende.
Und diese andere Wirklichkeit umhüllt und durchdringt ihn. Sie ist wie Vergangenheit und Zukunft, worin die Gegenwart immer schwimmt. Die Gegenwart ist ein eigentlich nicht existierender Punkt. Und diesen nennen wir gewöhnlich Wirklichkeit. Es gibt aber nichts Unwirklicheres als diesen Punkt, den immer fortfliessenden. Umhüllt von Ewigkeit und durchdrungen von Ewigkeit.
Also nur Menschen mit dem Gespür für Ewigkeit könnten diese Region verstehen. Und wer hat ein solches Gespür, wie kommt es dem Menschen zu?

Hier wurde mir das Mysterium der Tat erst richtig klar. Denn woher kommt die Tat? Sie kommt doch, wie alles, auch aus dieser anderen Wirklichkeit, aus dieser anderen Welt. Welt und Ewigkeit werden im Hebräischen durch das gleiche Wort bezeichnet: Olam.

Der Mensch trägt die Ewigkeit, so wie er die Welt trägt. Olam kommt von 01, und 01 ist so etwas wie ein Joch, das man trägt. Es ist die Last, die man trägt. Eine Last, die zu gleicher Zeit ermüdet und erleichtert.
Durch den Menschen existieren Welt und Ewigkeit, eben weil er sie trägt. Sie umhüllen und durchdringen ihn und bringen ihn in dem, was wir Gegenwart nennen, zur Manifestation, zur Entfaltung.

So wie er handelt, so ist der Mensch. Tut er das Gute, das Göttliche, dann sind seine Ewigkeit und seine Welt gut und göttlich. Tut er das Böse, dann umhüllt und durchdringt ihn das Böse, und sein Leben in der Gegenwart ist Ausdruck des Bösen.

Das Tun kann, wie alles, nur existieren, weil es auch von der anderen Wirklichkeit bestimmt wird. Im Tun aber wird auch die andere Wirklichkeit hier manifest. Sie erhält hier Leben. Das Tun ist das Schöpferische im Menschen. Es schafft Engel oder Dämonen. Deshalb hiess es auch, am Ende der Worte Gottes über den siebten Tag, - und der siebte Tag gilt doch als diese Wirklichkeit, die Gegenwart heisst - "auf dass getan werde", oder "auf dass es sich tue". Denn gegenüber Gottes Ruhe steht nun der Weg des Menschen. Weg ist Bewegung, ist Entfaltung. Gottes Ruhe ist wie das Samenkorn. Des Menschen Tun ist die Entfaltung dieses Samenkorns in Zeit und Raum. Der siebente Tag als die Realität der Welt ist der Weg des Menschen. Dieser Weg ist sein Tun.

Wie kann der Mensch wissen, was er tun soll? Wenn er zum Beispiel nicht imstande ist, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, weil es eben meistens nicht möglich ist, so wie man auch nur selten zwischen sinnvoll und sinnlos zu unterscheiden vermag.

Wenn aber in der Welt der Ewigkeit, also in der anderen Wirklichkeit, es ein Samenkorn gibt, dann heisst es, die Entfaltung dieses Samenkornes in der Welt der Gegenwart so zustande zu bringen, dass sie seinem Wesen entspreche.

Deshalb heisst es, nichts am Kern zu ändern, alles sich so entfalten zu lassen, wie es dem Wesen entspricht. Der Mensch will aber manipulieren, er hat seine Massstäbe für Gut und Böse, für Nützlich und Unnütz. Dann könnte man davon reden, dass er die Schöpfung vergiftet. Ist dies das Gift der Schlange?

So kann der Mensch die Welt verderben, er kann sie so verändern, dass das Leben unerträglich wird. Er kann Kinder falsch erziehen, die Gesellschaft verkehrt aufbauen, Politik in gemeiner Weise machen. Er kann all das aber auch gut und richtig machen. Wo finde ich nun aber diese Massstäbe für Gut und Böse?
Da ist das Samenkorn, wie es in der Welt der Ewigkeit existiert. Ist das nicht eben das Wort der Thora, fragte ich mich? Könnte es das sein?

Dann müsste dem Menschen also auch gegeben sein, die Worte der Thora zu erkennen, als Kerne, als die Samenkörner. Und das könnte er doch nur, weil auch in ihm selber die andere Wirklichkeit, die Ewigkeit lebt. Der Mensch ist dieses Samenkorn und seine Entfaltung. Beides ist er. Hier wurde mir zuerst die Realität des Paradoxen, des Widersprüchlichen als Lebensfundament deutlich.

"Durch das Tun wird er vernehmen", wie es deutlich in der Thora heisst. Aber genauso gilt dann auch, dass durch das Verstehen das Tun erst einen Sinn erhält. Er kann nicht sinnlos etwas tun. Denn sonst sucht er sich irgendeinen Sinn aus der Gegenwartswirklichkeit. Zum Beispiel sagt er dann, er handle, um die Religionsgemeinschaft zu festigen, oder um den inneren Frieden zu haben, oder aus hygienischen oder aus sozialen Motiven. Oder einfach aus Eigensinn, weil er nun gerade etwas anderes tun wolle als alle anderen.

Er kann auch nicht etwas einsehen und dann nicht danach handeln. Sonst wird er ein egozentrischer Esoteriker, ein Theoretiker, also eigentlich ein widerlicher Heuchler.

Die Einsicht in die Wahrheit dieses Samenkorns kommt also erst mit dem Leben, durch das Tun, durch die Entfaltung des Lebens eines jeden Menschen. Und jeder entfaltet sich nach seinem Namen, nach seiner Eigenart. So wie die Astrologen diese Entsprechung im Horoskop entdecken. Nur ist sie dort einseitig, zu stark auf das Nützliche, auf das Naturwissenschaftliche, auf eine materialistische Psychologie ausgerichtet. Die unendliche Vielfalt der Entfaltungsmöglichkeiten zeigt eben die Bewegung des Gegenwärtigen, des immer anders erscheinenden Gegenwärtigen. Denn in der Entfaltung der Welt steht doch als Siegel der Name Gottes. Seine Einheit ist die unendliche Vielheit aller Kreatur.

Es freute mich über alle Maßen, dass ich das Tun schon seit meinen Stunden mit Monnoson als himmlisches Geschenk erfasst hatte. Und ich sah nun ein, wie dieses Tun mich über Schopenhauer und was darauf folgte, jetzt zu Maeterlinck geführt hatte und was darauf noch folgen würde. Der Weg meines Lebens wurde nun die reine Entfaltung meines Wesens. Ich hatte das Böse abgewiesen, das Böse in der Form der eigenen Entscheidungen anhand eigener Konstruktionen. Und ich hatte die Philosophen nicht studiert, um einfach zu übernehmen, was sie sagten, sondern um zu erfahren, dass über das Leben nachgedacht werden konnte, und dass dieses Nachdenken wiederum inspiriert wurde und genährt aus einem Brunnen in einer anderen Wirklichkeit.

An diesem Brunnen steht die Frau. Sie schöpft aus diesem Brunnen das Leben aus der anderen Welt. Das ist die Frau, die Geliebte, die Mutter. Denn sie ist im Menschen der Ursprung seiner Gegenwartserscheinung.

Die Gegenwart ist nicht etwas Minderwertiges, etwas vom Urquell Abgetrenntes, die Gegenwart ist durch diese heilige Mutter da.

Wo die Frau beim Brunnen sich nicht helfen kann, wie im Falle der Rachel und der Zippora, steht das Männliche als der Jakob-Israel und als der Moses dort bereit.

Der Mann ist das Samenkorn. Und er ist die Sonne, das Licht. Die Frau ist das Wasser, und das Wasser entspricht doch in seiner Erscheinung im Gegenwärtigen dem Empfinden von Zeit.

Zeit heisst Reihenfolge, heisst vorher und nachher. Zeit bedingt also Kausalität, bedingt auch Raum, so wie Raum Zeit bedingt.

Zeit fliesst, ändert fortwährend die Situation. Zeit kann nicht erstarren im Leben. Wer aber aus dieser Welt der zwei Wirklichkeiten zieht, so wie Israel aus Mizraim - was in seinem Namen eben diese zwei Wirklichkeiten als Paar, als Gegensatz, enthält - zieht, der steht vor der Zeit in ihrer Unendlichkeit. Wenn ihn dann aber seine Vergangenheit bedrängt und wieder einfangen möchte, so wie Ägypten Israel wieder einfangen will, dann kommt das Hineinsteigen in die Zeit im Vertrauen auf die Tat. Durch diese Tat des Hineinsteigens, durch die Überlieferung an den Namen Nachschon, Sohn Aminadabs gebunden, an den Menschen aus dem Samen des Erlösenden - durch diese Tat erstarrt die Zeit und wird durchsichtig wie Kristall. Zeit wird durchschaubar, man sieht, wie alles durch die Zeit zieht, man erkennt den anderen. Jeder nach seiner Art, jeder in seinem Kristall. Zwölffach, nach dem absoluten Begriff der Vielheit der Zeit.

Von der Mutter, von der Frau, kommt dieses wunderbare Wasser. Während des Weges in der Wüste, des Weges durch die Wirklichkeit, die Gegenwart heisst - und immer ist Gegenwart, das Jetzt ist ein ewiges - ist es der Miriam-Brunnen, der das Wasser gibt.

Miriam spendet den Ursprung des Lebens in dieser Welt, und dieser Ursprung ist eben die Ewigkeit, diese andere Wirklichkeit im Menschen. Miriam steht also auch am Ursprung jeder Tat. Miriam, die auch am Ursprung des Erlösers in Moses steht, die ihn beschützt und am Leben erhält.

Das Tun wurde mir nun vollkommen klar als die erste Lebensbedingung. Und ich verstand nun auch, dass der Sinn des "Lernens", des Thora-Lernens im weitesten Sinne, also auch des Talmud-Studiums, eben nichts anderes sei als das Geniessen der Freude, dieses Wasser aus jenem Brunnen fließen zu sehen, es zu trinken und damit die Entfaltung des Lebens entsprechend dem Wesentlichen zu erfahren. Das sei die Freude der Thora, das ist der Lohn der Thora. Ein Lohn in Massstäben des Ewigen.

Friedrich Weinreb
Friedrich Weinreb

Author; Agnes Hidveghy Kategorie: Jüdische Mystik

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Agnes Hidveghy

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Comments (2)

  • Andras Nagy

    12 July 2017 at 10:42 |
    Lieber Herr Rollig, vielen Dank für Ihren Kommentar. Der Author der Quelle wurde genannt, hat nichts mit Unseriosität zu tun. Da der Text schon älter ist, konnten wir leider nicht mehr eruieren aus welchem Buch von Friedrich Weinreb der Text genommen wurde. Vielen Dank für Ihr Verständnis.

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  • Alfred Rollig

    30 May 2017 at 15:11 |
    Friedrich Weinreb ... immer wieder gut. Aber warum wird hier nicht die Quelle genannt, aus der geschöpft wurde? Das finde ich nun wieder unseriös.

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